Die Normalflasche von 1975 barg meinen höchsten (bereits bernsteingoldenen) Champagner-Genuss. Der Kork ging mit einem Knall ab und verkündete Großes. Die markante Würze (Estragon, Tabak) und Cremigkeit nahmen mich völlig gefangen. Die Säure war prägnant und sorgte für jugendliches Flair. Eleganz und Komplexität keimten mit der Luft auf: Karamell, Biskuit, Rauchigkeit, alles zart und nicht
überbordend – erfreulicherweise kein Sherry-Ton, dafür betörende Blutorange.
1990 Cristal aus der Doppelmagnum war hingegen unfassbar jung und klar strukturiert. Hier fanden sich ungestüme Aromen nach „Granny Smith“, Gletscherzuckerl, filigranen Kräutern (Melisse), Zitrusfrüchten und sogar ein Hauch von Himbeeren. Druck, Perlage, Stringenz – alles war perfekt und aus der Großflasche noch nicht am Zenit. Bei diesem Genuss wollen wir mit „Charlie Hebdo“ proklamieren: Sie haben (nur) die Waffen, wir haben (auch) den Champagner! Treiben wir den Sarkasmus mit dem vor 100 Jahre geborenen Frank Sinatra weiter auf die Spitze. Wer nichts trinke, täte ihm leid, weil er nie
besser als am Morgen gelaunt sei. Heute würde er vielleicht sagen: Wer gar nichts trinke, wolle allzu rasch ins Paradies eingehen.
Wie Christoph Ransmayr im „Album“ („Der Standard“) schrieb, „haben“ wir auch die Worte: Nicht die Sensen der Bauernkriege hätten das grausame Feudalsystem des Mittelalters besiegt, sondern die Worte der Aufklärung, quälend langsam zwar, aber unaufhaltsam. Das Wort könne den, der es schreibe oder lese, nicht nur über Meere und Gebirge, sondern über die Zeit selbst erheben. Die Worte der Dichter,
Aufklärer, Mahner und Denker werden auch die gegenwärtigen bildungsfeindlichen und verblendeten
Ideologien beseitigen, selbst wenn sie sich unter dem Deckmantel der Religion verbergen; mag es auch Generationen dauern. Santé!