In einem (!) künstlerischen Bereich lag das Alpenland vor Arkadien: bei der Holzschnitzerei. Die 500-jährigen Meisterwerke von Michael Pacher, Leonhard Astl und Tilman Riemenschneider sind einzigartig, etwa der transzendente Schmerz des Gekreuzigten in Hallstatt (Astl) oder die Sinnlichkeit Mariens mit dem Medusenhaar in St. Wolfgang (Pacher).
Ähnlich verhält es sich mit Rheinrieslingen. Die besten dieser Welt wachsen nördlich der Alpen. Unser gereifter Wein hat einen zarten, eleganten Alterston, dahinter evolvieren sich Düfte nach Steinobst und Sommerwiese; die stimmige und filigrane Botrytis wirkt wie ein Parfumtropfen. Geradezu ambrosianisch ist die verspielte Cremigkeit. Die ölige Essenz beinhaltet unfassbares Extrakt (dies bei 12,5 % Alkohol!). Ab 14 °C Weintemperatur werden weitere Geheimnisse preisgegeben: Karamell, Kokos, später dann auch rauchige Anklänge. Unser Göttertrunk lädt zum Genießen und Philosophieren ein. Ich tat beides und las nach dem magnumbegleiteten Dinner am Weingut Karl Gaulhofers Essay (Presse- Feuilleton) zum 200.
Geburtstag von Søren Kierkegaard. „Entweder – Oder“ proklamiere das radikale Pathos der Freiheit. Bei meiner Lektüre des Werkfragmentes „Das Tagebuch des Verführers“ fragte ich mich stets, warum so viel Raffinement und Seelenkenntnis zu so wenig fassbarem Lebensextrakt führen. Kierkegaard starb, will man seinen Biographen glauben, einsam und verbittert, dies (zweifellos) als Folge seiner freien Lebensgestaltung. Er fand neue Denkwege, indem er die Existenz des Menschen in der Zeit untersuchte und damit die Grundlage für erregende geistige Abenteuer des 20. Jahrhunderts, etwa Sartres Existentialismus oder Heideggers Fundamentalontologie, schuf. Ob Weintrauben, Lindenholz oder Worte: Einige Menschen haben die Gabe, sie mit ihrem Genie so zu formen, dass sie dauerhaft zu inspirieren vermögen.