Latour – Weine für ein Menschenleben
Bereits vor der Klassifikation der „Premier Crus“ zur Pariser Weltausstellung von 1855 schrieb der französische Weinautor A. Jullien 1822:„Le clos Latour produits des vins qui ont plus de corps et d´etfotte que le précéndents“ (Latour erzeugt „andere“Weine mit mehr Körper und Stoffigkeit). Diese Beschreibung entspricht auch dem modernen Mythos:„Hart wie ein Latour.“ In einer zur Vereinfachungen neigenden (Wein)Welt ist der Unterschied zu den anderen Premiers im Herzen von Paulliac rasch beschrieben.
Wenn mancherWeinfreund „bildhaft“ auf das linke Ufer blickt, sieht er dort die schöne, charaktervolle, kultivierte und immer gepflegte Ehefrau (Latour),dort die selektive,fast unwiderstehliche Versuchung (den exotischen feurigen Mouton eines Jahrhundertjahrganges). Finden wir im Mouton oder Lafite wirklich mehr Finesse? Bei den gereiften „Premiers“ ist eine derartige Differenzierung für mich unzulässig. Auffallend ist hingegen das konstante Qualitätsniveau von Latour.
Der Weingarten
l´Enclos Was bedingt nun die einzigartige Konstanz des „Grand Vin“ von Chateau Latour? Der Hauptgrund dürfte ein perfektes Zusammenspiel zwischen dem Cabernet Sauvignon (ca. 80 % des Cuvée), gezogen auf den durchschnittlich mehr als 40 Jahre alten Weinstö- cken, und demTerroir sein. Die für den Erstwein verwendeten Tr auben stammen ausschließlich von einem 47 ha großenWeingarten (l´Enclos), einer flachen Kieskuppe rund um das Herrenhaus, die im Osten durch die Ufer der Gironde begrenzt ist.
Diese Lage am Fluss dämpft die extremen Temperaturschwankungen. So verlor „l Enclos“ in der Frostphase des April 1991 nur 30 % des Fruchtstandes gegenüber einem Schnitt von 70 % in den Weingär ten der Region. „L´Enclos“ dürfte eines der besten Terroirs für Cabernet Sauvignon in der alten Welt bieten: Die oberste ca. 1 Meter dicke Schicht besteht aus Kiessand, der von der Gironde angeschwemmt wurde und aus den Pyrenäen und dem Zentralmassiv stammt; die Kiesschicht hat ein natürliches Drainage-System. Nur Weinstöcke können auf einem derartig kargen Untergrund gedeihen und sich mit dem notwendigstenWasser versorgen.
Diese sehr beschränkte Form der Nährstoffzufuhr fördert die Konzentration und Komplexität desWeines. Die Kiesschicht speichert zudem die Sonnenhitze und gibt sie während der Nacht langsam wieder ab. Das Wasser rinnt durch das Drainage-System zu den unteren Schichten ausTon und Mergel. Diese Schicht spielt eine große Rolle im Sommer, da sie immer ein Minimum anWasser speichert und damit dieVersorgung der Stöcke bei größter Salzlacke: Die kleinen Salzseen sind meist nicht tiefer als 0,8 Meter und trocknen in den Sommermonaten regelmäßig aus Hitze sichert. Die alten Weinstöcke wurzeln etwa 5 Meter tief in dieser Schicht. Die Kombination aus dem Kiessand und der MergelTonschicht, eingebettet in die spezielle geogr afische Lage , ist der Schlüssel zur wunderbaren Entfaltung der Trauben. Der in Ufernähe gepflanzte Merlot (ca. 20 % des Cuvée) spielt eine große Rolle, um denWein abzurunden und zu strukturieren.
Für Würze sorgen Petit Verdot und Cabernet Franc in homöopathischen Mengen (ca. 2%). Mengenreduktion (8 Reben pro Stock!), Handlese, Selektion und modernste Kellertechniken sind für einenWein dieser Qualität ohnehin selbstverständlich. In den temperaturregulierten Stahltanks dauert der Gä- rungsprozess (der ganzen Trauben mit Haut und Kernen) ca. 4 Wochen.Vor der malolaktischen Säureumwandlung wird derWein von den Inhaltsstoffen („Marc“) getrennt. Im Dezember gelangt der Wein für 18 Monate in „Barrels“, selbstverständlich nur neue Eichenfässer erster Güte. Weinfreunde, die sich über die Preise des Chateau Latour ärgern, dürfen sich trösten: Der wirtschaftliche Aufstieg des Chateau begann Ende des 17. Jahrhunderts, als Alexandre de Segur das Gut erwarb. Wenig später verfünffachten sich die Preise. 300 Jahre führte die Familie das Gut erfolgreich (bis 1963). Nach einem englischen Intermezzo von 30 Jahren ist es nunmehr wieder ganz in französischer Hand (Francois Pinault).
Trotz der konstanten Qualität sehe ich gerade in der Tanninstruktur der Weine große Unterschiede: Konzentriert und besonders reif sind dieTannine in den Jahren 1990, 1996 und 2000; ein Problem mit der etwas geringeren Säure 1990 sehe ich übrigens nicht, da die Struktur in sich passt. Mehr Charakter haben für mich 1959, 1982 und 2003.
Die Tannine sind zwar reif, aber nicht seidig, sondern kernig und provokant gesagt in der Jugend sogar „grün“.Auf diese Jahrgänge passt das geflügelte Wort von der „Härte des Latour“ perfekt.Auch die weicheren Jahrgänge,zu denen ich alle „70er“ ausgenommen 1975 und 1978 zähle, dann 1980, 1981, 1983, eingeschränkt 1985, 1987, 1992 und 1993, bieten beachtliche, von Alterstönen ungetrübteTrinkfreuden und echten Charakter.
Abseits der Monumente waren für mich die Jahrgänge 1985 und 1962 die größte Überraschung. DieWeine sind an Eleganz und Finesse kaum zu überbieten; der erstgenannte Wein wurde von Robert Parker wohl deutlich unterbewertet. Im höher gelobten 1966 sehe ich übrigens, abgesehen von der Präzision, deutlich weniger Finesse.Wahrhaft sensationell ist die Entwicklung der alten Weine (1947, 1952, 1953). Hier ist aber beiVergleichsverkostungen Vorsicht geboten: Die unverwechselbare Persönlichkeit von Altflaschen entsteht nicht nur durch den Jahrgang,sondern auch aus der Entwicklung der Einzelflasche selbst, und das verleiht jeder guten alten Flasche Einzigartigkeit.
Latour.pur
Die Vertikalverkostung der beschriebenen Weinjahrgänge zwischen 1947 und 2003 erfolgte an einem Abend am Attersee, veranstaltet von Karl Heinz Wolf. Es wurden alle wesentlichen Jahrgänge (ausgenommen 1961) dargeboten. Die Weine kamen in 7 Flights auf den Tisch und waren perfekt aufbereitet, die Temperatur passte optimal (max. 18° C), was vor allem bei gereiften Weinen unabdingbar ist! Die Qualität der Flaschen war famos, wir konnten auch neun seltene Großflaschen genießen.
Die Beschreibung und Erfassung einer solchen Vielzahl von Weinen ist natürlich auch anstrengend und funktioniert bei mir über „einen intuitiven Zugang“. Ich lasse den Wein zuerst ohne analytischen Zugang wirken. Die Beschreibung sickert dann in meinen Kopf. Für die Verkostungsnotizen habe ich die Weine in drei Kategorien gegliedert. Zuerst kommen die Weine, die meiner Meinung nach noch lagerfähig sind, dann jene Weine, die den Höhepunkt erreicht haben und zuletzt die Weine, die den Zenit der höchsten Genussfreude wohl bereits überschritten haben. Innerhalb der genannten Kategorien beginne ich jeweils mit dem besten Wein. Da es der Blattlinie entspricht, sind keine Punkte angeführt. Ich darf aber verraten, dass ich 7 Weine in den Bereich der Weltklasse (96-100 Punkte, Extraordinary) und eine große Zahl der übrigen Weine als außergewöhnlich (90-95 Punkte, Outstanding) einstufen konnte.
„Noch länger lagerfähig“ (beginnend beim bestenWein)
1959 Trockenfrüchte, ein Hauch von Rumtopf, komplexe Beerigkeit (Maulbeere), terroirspezifische Salzigkeit wie ein Flash! Hat seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Perfekte Struktur: Kernige, kräftige Tannine, gepaart mit erstaunlicher stoffiger Süße. Ein 50-jähriger Wein – einst superhart, jetzt angenehm hart!
2003 Struktur und Autorität suchen ihresgleichen: Massive Säure, kernige Edeltannine, saftige Extraktsüße, „noch trinkbar“, bevor er sich verschließen wird. Die vor einem Jahr spürbare Fruchtpräsenz trat zurück hinter fantastische Holztöne, die sich in Mocca undTabaksüße verfeinern. Nach 1 Stunde Vanilleschoten in Vollendung.
1982 (aus der MAGNUM) Die Flasche ist nicht ganz optimal: Ein leichter modriger Ton verschwindet erst nach 1 Stunde aus dem Glas. Zuerst ein (strenger) vegetabiler Ton, später Stachelbeere, Eichenholz, komplexe Rotbeerigkeit, nachher Rosenduft. Dabei rauchig, grü- ne Nüsse. Harte Tannine. Kein Hauch von Alter. Weit vor dem Höhepunkt!
1996 Weit vom Höhepunkt entfernt (> 10 Jahre)! Die Nase bietet Mineralität und Grafit sowie Moccarösttöne, weniger Primärfrucht. Nach 1 Stunde komplexer: Wie parfümiert! Dichte, Tannine, Extraktsüße und Saftigkeit bieten hohen Genuss. Die Differenzierung bleibt der Alterung vorbehalten.
1990 Extravaganter Wein: Sandelholz,Wald mit Beerenteppich, später auch Cassis. Wirkt marmeladig-dicht, fast überseemäßig. Die Säure ist mild, eingebettet in dominante, reife, holzigeTannine.Wieder testen in 5 Jahren. Komplexität erwarte ich im Alter.
2000 Gerade in einer schwierigen Phase, wirkt anfänglich nicht sehr zugänglich, spä- ter elegant-verspielt. Junge Johannisbeeren, aber nicht grün, sondern puristisch. Beachtlich sind die Mine ralität und der klare, präzise Stil. Die Tannine sind extraseidig.
1995 Expressive Primärfrucht, vor allem Preiselbeeren. Nach 30 Min. entsteht der (angeblich) latourtypische Eukalyptuston. Der Wein wirkt noch „hart“ und sogar kantig, aber trotzdem laabend und mineralisch. Große Länge!
2002 Nicht so elegant und differenziert, aber beachtlich konzentriert und charakterstark: Limettenaroma, salziges Terroir, schwere likörige Noten, das Holz schmeckt nach Lakritze.
2001 Mittelgewichtig, würzig-mineralisch, saftig und angenehm zu trinken, KirscharomenunterlegtmitSchmalzigkeit.
1999 Der Wein wirkt mittelgewichtig und verhältnismä- ßig weich. Die Struktur passt: Saftigkeit und Länge bieten Genuss. Vanilletöne und rotbeerige Primärfrucht sind spürbar.
1991 (aus der Magnum) Komplex. Reife Töne nach Powidl und Tabak. Balsamische Noten. Trotzdem nicht „alt“, da die Sekundärtöne in bissiges Tannin und Säure eingebunden sind.
1986 Ungetrübte Primäraromen nach Preiselbeeren. Sehr trocken, fast astringierend. Massive Säure. Harte Tannine. Noch lagern!
1997 Kleinerer Jahrgang mit Charakter: Die Holzintegration ist nicht abgeschlossen. Der Wein wirkt gefällig, sogar witzig, bedingt durch das durchdringendeAroma nach „Karamellbonbons“ und kaltem Malzkaffee.
1998 Untypisch: Prägnante Himbeere, etwas „stichig“, wie im Gärungsprozess. Der Wein ist limonadig und mittelgewichtig.
„Am Höhepunkt/ bald trinken“ (beginnend beim bestenWein)
1962 Einer der strahlenden Weine dieser Verkostung. Der ele-gante hedonistische Geruch nach Amber, unterlegt mit süßen Weichseln, sucht seinesgleichen. Später Anklänge von Feigen. Der Wein ist saftig, frisch und bissig, das mit seidi-gen Tanninen und toller Extraktsüße.
1985 (aus der Magnum) Tolle Nase nach orientalischem Edelmokka; süßes Geheimnisvolles versprechend. Nach einer Stunde animalisches Blut und Schmalz. Extrem saftig und ausgewogen. Ein Trinkvergnügen am Höhepunkt.
1953 Beeindruckend und ungemein charakterstark: Tabaksüße und vor allem fantastische Pilztöne, genauer gesagt intensivste Champignons! Am Gaumen klar, gefällig, bei völlig intakter Struktur!
1978 Bereits Alterscharakter. Klassische Sekundäraromen wie süßer Tabak, Unterholz, nasses Laub, vermählt mit erstaunlichem Cassis. Wird im Glas besser und keine Beute der Oxidation. Überraschend, dass sich trotz der Nase kaum Alterstöne zeigen: Klar, bissig, mineralisch.
1975 (aus der Magnum) Die Serie der charakterstarken gereiften „Grand Vin“ setzt sich fort: In der Nase Blutsüße, Rosenparfüm und später „Fleisch“. Am Gaumen wieder klar, sogar noch hart, seifig, angenehm extraktsüß.
1955 Der intensivste klarste Eukalyptuston des Abends, fast präzise ohne Abschweifungen. Am Gaumen minzig und immer noch pelzig von den Gerbstoffen.Was für ein starker Methusalem!
1989 Interessant: Duft nach Jonaapfel, kristalline Töne. Mittelgewichtig. Ein Geschmack nach Kirschkernen, wie in vielen weicheren 80iger Latours spürbar.
1988 (aus der Magnum) Limonadige Primärfrucht, saftig, weich, aber dennoch grüntönig.
1966 (aus der Magnum) Hier finde ich wieder Eukalyptus und Minze. Nichts Ältlich-Störendes! Laabende Süße, weiche Textur und passende präsente Säure.
1994 Bereits hellrubinrot, limonadig-würzig.Angenehme runde Tannine. Mittelgewichtig.
1970 Noch erstaunlich farbdicht. Würze-Flash in der Nase, verflüchtigt sich rasch. Lackig und bissig. Die Tannine sind kernig und edelbitter.
1983 (aus der Magnum) Weich und kirschkernig. Leicht, gefällig, keine Alterungstöne.
1993 Klar, mineralisch, elegant. Cassis, wie aromatisiert.
1987 (aus der Magnum) Purer leichter Cassiston, keine Alterungstönung, leichtgewichtig, mineralisch.
1979 Etwas verschlossen, dann sü- ße Kirsche. Gefällig, weich.
1992 Interessanter Geruch nach Apfelkompott, würzig. Leichtgewichtig, aber kein Alterungston!
„Höhepunkt überschritten/ austrinken“ (beginnend beim bestenWein)
1947 Im Duft der gereifteste Wein, ungemein charakterstark: Welkes, feuchtes Laub,Tabak, Rumtopf, später Wald und Trüffel! Am Gaumen kaum fassbar: limettig-salzig. Stabile Säure, strukturiert. Ein Schauer gleitet über den Rücken. Was für ein Wein, was für eine Flasche, Fortuna adiuvat Fortiter!
1952 Welkes Laub, abgründiger Tabak, salzige Würzigkeit. Gereift und sehr spannend! Am Gaumen wieder jünger als in der Nase, beinahe klar!
1973 (aus der Magnum) Wieder Charakter: Kohlrabi, Cassis, Tabak. Keine Spur von Altwein. Am Gaumen sogar frisch, runde Tannine am Höhepunkt, Kautabak, limonadige Kirsche.
1980 (aus der Magnum ex. Chateau) In der Großflasche interessant; aus der Normalflasche wohl weit über dem Höhepunkt! Johannisbeere, sekundäre Töne wie Stallgeruch; würzig, weich, Leichtgewicht.
1971 In der Nase Unterholz, deutlich über dem Höhepunkt. Wieder weich-kirschig.